Als Shane „Rawkus“ Flaherty spät am Samstagabend den Bereich für die Pressekonferenz betrat, war der Freudentaumel noch deutlich zu spüren. Er und seine Kollegen von Team USA nahmen Platz. Auf dem Tisch standen zwei Goldtrophäen, die mit unzähligen Fingerabdrücken übersät waren und wie auffällige Tafelaufsätze wirkten. Dann verflog der Freudentaumel plötzlich.

„Als ich das letzte Mal hier saß, hatte ich gerade verloren“, sagte er. „Ich saß einfach nur da und war deprimiert!“

Wenn der Rawkus der letzten BlizzCon ihn jetzt nur sehen könnte: Goldmedaillengewinner des Overwatch World Cups und Teil des Kaders von Team USA, der als erster Südkoreas eisernen Griff um das Turnier brechen konnte – eine historische Leistung.

„Es ist so schön, dass wir es endlich geschafft haben“, meinte er. „Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie ich mich gerade fühle. Ich wollte es einfach unbedingt schaffen. Ich wollte nach den letzten beiden schlechten Jahren endlich gewinnen.“

DIE SIEGER DES #OWWC2019: @USAOWWC. HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH, TEAM USA!

Werfen wir einen Blick zurück auf die letzten beiden Jahre. 2017 konnten Team USA dank eines 17-jährigen Tracer-One-Tricks namens Jay „sinatraa“ Won den amtierenden Meistern im Viertelfinale einen gehörigen Schrecken einjagen. Sie fochten das Match auf fünf Karten aus, aber letztendlich mussten sich Team USA 3:1 geschlagen geben. 2018 lautete das unausgesprochene Ziel, Südkorea zu schlagen. Allerdings machte ihnen das Vereinigte Königreich im Viertelfinale einen Strich durch die Rechnung. (Die Amerikaner hatten 2016 bereits das Viertelfinale des allerersten OWWC verloren, ebenfalls gegen Südkorea.)

Im Jahr 2019 sollte alles anders werden.

„Letztes Jahr haben wir Spieler alle gedacht, dass wir uns nur um Korea Sorgen machen mussten. Deswegen haben wir uns nur Korea genauer angesehen“, erklärte sinatraa. „Dieses Jahr haben wir jeden möglichen Gegner genau studiert und uns alle Karten, alle Teamzusammenstellungen, einfach alles über sie angesehen.“

Die Ergebnisse der Gruppenphase am Freitag sind Beweis für diese sorgfältige Vorbereitung. Team USA schlugen Frankreich, Schweden, das Vereinigte Königreich und Südkorea – vier Länder mit völlig unterschiedlichen Spielstilen: 3:0, 3:0, 3:0 und 3:0. Am Samstag hätte China, der Gegner im Goldmedaillen-Match, das Team theoretisch vor neue Herausforderungen stellen sollen. Das war aber nicht der Fall: 3:0.

Off-Tank Indy „SPACE“ Halpern gab auf der Bühne zum Besten, dass der Sieg des Teams absolut zu erwarten war. Das war keineswegs überheblich gemeint, sondern zeugt von den immensen Anstrengungen, die das Team in das diesjährige Turnier investiert hat. Wenn wirklich jede einzelne Eventualität bedacht worden war, warum hätte es dann Überraschungen geben sollen?

Das Risiko hat sich gelohnt: @SPACEOW schafft einen GOTTGLEICHEN Gravitationsfluss!

Um der Vergangenheit zu entkommen, musste das Team allerdings selektiv vergessen.

„Wir haben uns keine Gedanken um die letzten Jahre gemacht, haben nie darüber gesprochen und sie auch nie erwähnt. Wir wollten uns einfach nur auf die Zukunft konzentrieren“, erklärte sinatraa.

Die letzten beiden Jahre voller Enttäuschungen? Es ist, als wären sie nie passiert. Kommt euch das unmöglich vor? Vergesst nicht, dass die Hälfte der Startaufstellung von Team USA aus dem Kader von San Francisco Shock stammt. Genau derselbe Kader, der in den Playoffs 2019 das erste Match verloren hatte, nur um dann auf seinem Weg zur Trophäe der Overwatch League jede einzelne Karte für sich zu entscheiden. Auch wenn sie gespürt haben, dass ihnen der Sieg bestimmt war, gaben sie sich doch wie Außenseiter (und klopften zur Sicherheit auf eine Menge Holz).

Südkorea hatten sich zwar zwei weitere Shock-Spieler samt Cheftrainer Dae-Hee „Crusty“ Park gesichert, doch Team USA hatten den Geist der Mannschaft verinnerlicht. Die Spieler konzentrierten sich. Und gingen mit klarem Kopf in jedes Match. Gleichzeitig blieben sie locker und genossen die Gesellschaft ihrer Teamkollegen. Es gab sogar einen speziellen Handschlag, von dem Kyle „KSF“ Frandanisa allerdings angeblich wegen eines „total seltsamen kleinen Fingers“ ausgeschlossen war.

Unser Erfolgsgeheimnis? Ein geheimer Handschlag. Die Chemie zwischen unseren Tanks @super_OW und @SPACEOW sprengt jede Skala.

„Wir haben Synergie und wir vertrauen einander. Das hat Shock so stark gemacht und hier ist das nicht anders“, stellte Unterstützer Grant „moth“ Espe fest.

Die Shock-Synergie war sogar bei den Rückspielen gegen Südkorea deutlich zu sehen. Obwohl sinatraa, moth und super gegen Crusty, Hyo-Bin „ChoiHyoBin“ Choi und Min-Ho „Architect“ Park antraten, gab es auf und hinter der Bühne jede Menge herzliche Umarmungen zwischen den Teamkollegen der Overwatch League.

Das ist auch der Grund, warum der Overwatch World Cup so schön ist. Er feiert Talente aus aller Welt und stellt verbissene Kämpfe hinten an. Zumindest geht es nicht so heiß her wie in der Liga, wo riesige Preisgelder und kontinuierlich angefachte Rivalitäten an der Tagesordnung sind.

Deshalb konnte Haupttank Dong-Gyu „Mano“ Kim der Erfahrung auch etwas abgewinnen, obwohl er keine weitere Goldmedaille mit nach Hause nehmen konnte.

„Vor dem Overwatch World Cup dachte ich, dass wir es bereuen würden, wenn Korea verliert“, erklärte er. „Nach all diesen Matches und der Bronzemedaille bereue ich aber rein gar nichts. Ich bin sehr dankbar, dass ich so viele talentierte Spieler, das gesamte Coaching-Team und alle anderen Mitglieder von Team Südkorea kennenlernen durfte. All diesen Spielern näherzukommen, war eine tolle Erfahrung für mich. Außerdem habe ich eine Nachricht an alle, die zum ersten Mal am World Cup teilnehmen: Natürlich wollen wir alle die Goldmedaille gewinnen, aber macht euch das Leben nicht zu schwer. Schließt damit ab und macht euch bereit, für die Saison 2020 der Overwatch League alles zu geben.“

Hier scheinen eindeutig Kameradschaft und Entdeckungsfreude durch. Dieses Jahr kam eine noch größere Anzahl an Teams auf der BlizzCon zusammen und die Reichweite des Overwatch-Esports war deutlich zu sehen. Natürlich waren die üblichen Teilnehmer vertreten, aber wir durften uns auch über Teams aus Saudi-Arabien, Südafrika, Indien und Singapur freuen. Die Flaggenzeremonie vor den Matches am Samstag war länger und bunter als in den vergangenen Jahren.

Dänemark und die Niederlande, die in den Gruppenphasen bereits tolle Leistungen erbracht, es aber nie darüber hinausgeschafft hatten, durften endlich die BlizzCon-Bühne betreten. Sie waren kaum angekommen, da blühten sie im Scheinwerferlicht auch schon auf. Dänemark erzwangen gegen die mächtigen Südkoreaner zwei Unentschieden. Die Niederländer konnten Frankreich, die ewige Medaillenkonkurrenz, auf einer Karte bezwingen. Und auch wenn Frankreich in den Medaillenrunden Dauergast ist, trat das Team dieses Jahr mit einem fast komplett neuen Kader an. Seine Spieler konnten zum ersten Mal die Luft der großen Bühne schnuppern.

Man darf nicht vergessen, dass ständig neue Generationen an Overwatch-Spielern nachkommen. Beim Overwatch World Cup können sie sich oft erstmals einen Namen machen.

Vor zwei Jahren war auch sinatraa noch ein unbeschriebenes Blatt. Jetzt ist er 19 Jahre alt und wurde in der letzten Saison zweimal zum MVP gekürt. Einmal bekam er den Ehrentitel für die reguläre Saison der Overwatch League und einmal für den Overwatch World Cup. Dieselbe Leistung erbrachte letztes Jahr Seong-Hyun „JJoNak“ Bang. Er, moth und super sind außerdem jeweils der zweite, dritte und vierte Spieler nach Jun-Ho „Fury“ Kim, der sowohl in der Overwatch League als auch beim Overwatch World Cup einen Titel gewonnen hat.

EINSCHLAG. Macht Platz für @sinatraa!

Der Sieg von Team USA stellt keine grundlegende Veränderung im Universum des Overwatch-Esports dar. 2019 ist einfach ein schicksalsträchtiges Jahr für diese spezielle Gruppe Spieler. Momentan ist sinatraa der beste Spieler der Welt, was er leicht verwirrt auf der Bühne bestätigte. Und die ganze Zeit über waren moth und super an seiner Seite. Mit dynamischen Teammitgliedern wie SPACE, Rawkus und Corey war es also quasi unausweichlich, dass sich das Team auf sinatraas charakteristischen Spielstil – ungezügelte Aggression – einstellt und es bis zur Goldmedaille schafft.

Kein anderes Team hat momentan den kreativen Weitblick, um eine Teamzusammenstellung mit Genji, Symmetra und Reinhardt ins Feld zu schicken. Geschweige denn das Selbstvertrauen, mit diesen Helden die fünfte Karte gegen die dreimaligen Meister des Overwatch World Cups zu bestreiten. Oder die richtige Einstellung, um diese Zusammenstellung korrekt zu spielen, wenn man SPACE Glauben schenkt.

„Zwei oder drei Teams wollten diese Strategie sicher klauen, aber niemand hatte damit Erfolg. Sie waren einfach nicht so aggressiv wie wir“, erläuterte er. „Das war ganz lustig. Nachdem wir [in den Trainingsspielen] alle mit dieser Strategie geschlagen hatten, wollten es alle nachmachen.“

Wie heißt es so schön? Wenn du sie nicht schlagen kannst, schließ dich ihnen an. Und dieses Jahr konnte niemand Team USA schlagen.